Der Raum für LehrerInnen, die mit Kreisklasse nicht zufrieden sind.
Keine Lust auf Kreisklasse?
Da geht noch mehr!
Mehr persönliche Entwicklung. Mehr Freude an der Arbeit. Mehr Erfolgserlebnisse für unsere SchülerInnen.
Lasst uns gemeinsam für die Bundesliga trainieren!
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Was tut Best Practice?
BP bietet ein Treffen engagierter LehrerInnen, auf welchem wir voneinander lernen können. Leider herrscht im LehrerInnentum ein weit verbreiteter Konsens, jeden sein Ding machen zu lassen. Einblicke in die Arbeit der anderen ist an den allermeisten Schulen ein Tabu. Dabei könnten wir viel voneinander lernen.
Der Kern von Best Practice besteht in einem intensiven Trainingslager hochmotivierter LehrerInnen.
Ein hohes Maß an Eigenleistung wird gefordert. Wer sich nur online bei einem Vortrag einwählen möchte, um hinterher eine Fortbildungsbescheinigung zu erhalten, ist hier falsch.
Bei diesem Treffen tauschen wir uns in verschiedenen Formaten aus und arbeiten den verschiedenen Seiten des Dreiecks.
Guter Unterricht entsteht nur bei einem hohen Anspruch der Lehrperson an sich selbst. Fragt man einen Olympioniken, wie er sich auf den Wettkampf vorbereitet hat, wird er auf jahrelanges, intensives Training verweisen, um langfristige und hochgesteckte Ziele zu erreichen. Niemand wird zum Experten, indem er vage Ziele formuliert und halbherzig dafür trainiert. Wir Lehrer haben es viel schwerer als der Hammerwerfer, weil wir jeden Tag mit unberechenbaren Faktoren konfrontiert sind und nicht stur immer denselben Ablauf üben können. Lebenslanges Lernen bedeutet für uns vor allem eins: Die Weiterentwicklung unserer Persönlichkeit.
"Service is the direct path to a meaningful life.“ – Jay Shetty
Teilen, Geben und Helfen macht glücklich. Das ist eine psychologische Tatsache. Und wir stehen an einer Position, die es uns erlaubt, jedes Jahr hunderten von Menschen mit unserem Handeln dienen zu können. Über ein LehrerInnenleben kannst du tausende von Leben besser machen, hunderttausende, wenn du die Personen mitzählst, die nur indirekt beeinflusst werden. Denn unsere SchülerInnen gehen in die Welt und werden Teil der Gesellschaft. Was wir ihnen beigebracht haben, beeinflusst uns alle.
Eltern, SchülerInnen, KollegInnen und die Schulleitung haben Ansprüche an uns, die sich zudem häufig widersprechen. Und das sind nur dienstliche Anforderungen. Im Privatleben müssen wir auch Familie und Freunde gerecht werden. Bei alledem vergisst man sich schonmal selbst. Einige tun das sogar vorsätzlich, weil sie es für lobenswert halten, sich für andere aufzuopfern. Die Diagnose „Burnout“ ist dann der Ritterschlag eines ständigen Bemühens um andere. Ich halte das für ein falsches Verständnis davon, seinen Beitrag zu leisten. Wir müssen uns um uns kümmern, um weiterhin für andere da sein zu können.
Eine Art Seminar, in welchem wir uns in verschiedenen Formaten austauschen und an den verschiedenen Seiten des Dreiecks arbeiten.
Guter Unterricht entsteht nur bei einem hohen Anspruch der Lehrperson an sich selbst. Fragt man einen Olympioniken, wie er sich auf den Wettkampf vorbereitet hat, wird er auf jahrelanges, intensives Training verweisen, um langfristige und hochgesteckte Ziele zu erreichen. Niemand wird zum Experten, indem er vage Ziele formuliert und halbherzig dafür trainiert. Wir Lehrer haben es viel schwerer als der Hammerwerfer, weil wir jeden Tag mit unberechenbaren Faktoren konfrontiert sind und nicht stur immer denselben Ablauf üben können. Lebenslanges Lernen bedeutet für uns vor allem eins: Die Weiterentwicklung unserer Persönlichkeit.
Service is the direct path to a meaningful life.“ – Jay Shetty
Teilen, Geben und Helfen macht glücklich. Das ist eine psychologische Tatsache. Und wir stehen an einer Position, die es uns erlaubt, jedes Jahr hunderten von Menschen mit unserem Handeln dienen zu können. Über ein LehrerInnenleben kannst du tausende von Leben besser machen, hunderttausende, wenn du die Personen mitzählst, die nur indirekt beeinflusst werden. Denn unsere SchülerInnen gehen in die Welt und werden Teil der Gesellschaft. Was wir ihnen beigebracht haben, beeinflusst uns alle.
Eltern, SchülerInnen, KollegInnen und die Schulleitung haben Ansprüche an uns, die sich zudem häufig widersprechen. Und das sind nur dienstliche Anforderungen. Im Privatleben müssen wir auch Familie und Freunde gerecht werden. Bei alledem vergisst man sich schonmal selbst. Einige tun das sogar vorsätzlich, weil sie es für lobenswert halten, sich für andere aufzuopfern. Die Diagnose „Burnout“ ist dann der Ritterschlag eines ständigen Bemühens um andere. Ich halte das für ein falsches Verständnis davon, seinen Beitrag zu leisten. Wir müssen uns um uns kümmern, um weiterhin für andere da sein zu können.
Was findet sich auf dieser Homepage?
Im Zentrum dieser Seite steht eine Sammlung an Kurzgeschichten, in welchen alltägliche Schulerfahrungen aufgearbeitet werden und zugleich vorgestellt wird, wie unser Braintrust funktionieren wird.
Warum Geschichten?
Wir sind alle Geschichtenerzähler.
P. Sartre
Jeder Mensch erfindet früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.
Max Frisch
Das Erzählen von Geschichten ist das, was uns zum Menschen gemacht hat. Diese Fähigkeit hat es uns erst ermöglicht, in Gruppen zusammenzuleben, die mehr Individuen beinhalten als wir persönlich kennen. Die eine Eigenschaft, die den homo sapiens vor allen anderen auszeichnet, ist es, Narrative zu konstruieren, die unsere Subjektivität überdauern. Geschichten ermöglichen die Realität von Dingen, die es außerhalb ihrer gar nicht gibt. Nationen beispielsweise sind nicht anders als Geschichten, die genügend Menschen glauben, obwohl diejenigen, die sie erdacht haben, nicht mehr leben[1]. Diese Erzählungen, die alten Griechen nannten sie Mythen, haben damit ihre eigene Realität und sind keinesfalls nichtige Wolkenpaläste.
Unser Verstand begreift Konkretes schneller als Abstraktes. Unser Gedächtnis memoriert Beispiele eher als Theorien. Unsere Aufmerksamkeit folgt Geschichten bereitwilliger als Vorträgen.
Ratgeber behaupten oft, dass es festgelegte Methoden gäbe, die sich auf jede Situation beziehen lassen. Man habe einige Schritte zu befolgen und würde dann ein Ergebnis erzielen. Das funktioniert nur bei sehr spezifischen Aufgaben. Menschen und Klassenräume sind aber lebendige Systeme, die sich weiterentwickeln, wenn man ihre Engpässe findet und behebt, wenn man außerdem konstruktive Energie erschafft und verwaltet. Dafür gibt es keine Universallösung. Wohl kann aber entlang eines Beispiels aufgezeigt werden, wie man sich Engpässen widmet, Energien schafft und seine Ziele erreichen kann. Man erhält einen Werkzeugkoffer, den es dann mit praktischer Vernunft zu gebrauchen gilt. Und jede Arbeit benötigt das richtige Werkzeug aus diesem Set wie auch den gekonnten Umgang mit demselben. Ein Nagel lässt sich nicht mit einer Säge in die Wand schlagen und ein ungeübter Handwerker verletzt sich auch mit dem richtigen Werkzeug. Der handwerklich ungebildete Philosoph und Altsprachler in mir weiß wovon er redet.
Wer mich kennt, könnte versuchen, in den Protagonisten der folgenden Geschichten reale Personen wiederzufinden. Daher versichere ich: Alle Personen sind frei erfunden. Insbesondere beziehe ich mich in keinem Falle auf Schulen, an denen ich Dienst getan habe oder dies derzeit tue.
Warum diese Geschichten?
Jeder vierten LehrerIn droht das Burnout. In allen Statistiken, die verschiedene Berufe auf ihr Risiko einer mentalen Erkrankung untersuchen, stehen LehrerInnen in den Top 10. Neun von zehn aller KollegInnen arbeiten jede Woche wenigstens einen Tag zusätzlich zum vorgesehenen Deputat. Es gilt regelrecht als unanständig, wenn man nicht ständig über Stress klagt. Wer Zeit hat, arbeite nicht genug, so der implizite Vorwurf.
Motivierte LehrerInnen möchten einen Beitrag für das Leben ihrer SchülerInnen leisten. Dafür ist es unablässig, Selbstsorge zu betreiben, um seine Aufgaben lange und mit hohem Anspruch durchführen zu können. Wer mit vierzig aus dem Schuldienst ausscheidet, kann seinen Pflichten nicht mehr nachkommen, kann keinen Beitrag mehr für das Wohl seiner SchülerInnen leisten. Dann kann man sich zwar darauf berufen, dass man doch alles gegeben habe und sich regelrecht für seine Schule kaputt gearbeitet habe, aber daran kann ich nichts Ehrenhaftes erkennen, lediglich ein fehlendes Verständnis für einen verantwortungsvollen Umgang mit sich und anderen. Um also lange Jahre gute Arbeit leisten und damit einen Nutzen für die Gesellschaft zu bewirken, ist persönliche Entwicklung das Alpha und das Omega. Wir tragen große Verantwortung für eine Vielzahl von Personen. In einem LehrerInnenleben beeinflussen wir tausende von Jugendlichen direkt und mit deren Bezugspersonen hunderttausende indirekt.
Diese Aufgabe stimmt mich demütig und spornt mich an. Ich möchte mit guten LehrerInnen zusammenarbeiten, um mich weiterzuentwickeln. Ich möchte der beste Lehrer sein, der ich sein kann. Und ich möchte euch helfen, dasselbe zu erreichen.
Wir werden gemeinsam zu besseren LehrerInnen, wenn wir mit Commitment an uns arbeiten und uns das richtige Umfeld suchen.
Das ist bestpractice. Willkommen in der Bundesliga.
Ich bedanke mich im Vorfeld für jeden Kommentar, jeden Verbesserungsvorschlag, jeden Wunsch, jede Anregung, jede Kritik und natürlich jedes Lob an: info@bpractice.de.
Stefan Schließmeyer, März 2022
[1] Der geneigte Leser findet diesen Gedanken weiter ausgeführt bei Yuval Noah Harari in „Sapiens: A Brief History of Humankind.“
Motive erkennen
„Warum müssen wir das machen?“, fragte Franziska. Dieter war genervt: „Luca, hör bitte damit auf, mit dem Stift auf dem Tisch zu trommeln, es hält deine Nachbarn vom Arbeiten ab.“ Luca war ohnehin ein hoffnungsloser Fall. Franziska hatte jedoch Chancen auf eine passable Note in der nächsten Klassenarbeit, was seinen Ärger über ihre fehlende Disziplin nur steigerte. „Weil ich das sage“, brummte Dieter schließlich. Die Stunde dümpelte noch eine erträgliche Viertelstunde vor sich hin, bis der Gong alle Beteiligten erlöste. „Geht in Frieden, aber geht!“ versuchte Dieter die von träger Atmosphäre gekennzeichnete Stunde mit einem Anflug von Heiterkeit zu beenden. Die Ratlosigkeit in den Augen seiner SchülerInnen ließ ihn dies sofort bereuen.
Freistunde, endlich. Den Austausch mit seinen KollegInnen genoss Dieter üblicherweise. „Warum tun die eigentlich nicht, was ich will?“ klagte er Jorge, seinem Sitznachbarn. Eigentlich würde er lieber mit Lisa sprechen, sicher würde er sie heute noch anrufen, aber die Gespräche mit ihr waren ausnahmslos anstrengend. Derzeit steht ihm mehr der Sinn dazu, mit Jorge zu sprechen. Sein Kollege war etwas zu klein, etwas zu dick, hatte etwas weniger Haare auf dem Kopf als in seinem Alter üblich und war immer etwas zu schlecht für den Dienst vorbereitet. Dieter fühlte sich gut, wenn er sich mir Jorge unterhielt, war er doch selbst etwas größer, weniger dick und üblicherweise deutlich besser vorbereitet. „Das Pferd muss schon selbst saufen“, kommentierte Jorge das Geschehene. „Wer den Sinn der Aufgaben nicht selbst sieht, dem ist nicht zu helfen. Wir wissen was wir tun, darauf sollten die Kinder vertrauen. Und die Eltern auch, wo wir gerade dabei sind.“ Das hörte Dieter gerne. Er hatte schließlich lange studiert und ein anstrengendes Referendariat hinter sich. Seine Arbeitsaufträge waren sorgsam vorbereitet und beruhten auf belastbaren Überlegungen. Das sagte er sich jedenfalls recht häufig. Jorge bestätigte ihn in seiner Unzufriedenheit und dafür war Dieter dankbar.
So gern er mit Jorge sprach, so ungern rief er Lisa an. Vorhin, in der Freistunde, freute er sich auf den Anruf. Jetzt, da er daheim und entspannt war, scheute er das Gespräch. Er sprach gerne mit ihr, wenn er sich mal überwunden hatte, aber die Gespräche hatten zwei Dinge stets gemeinsam: Sie waren anstrengend und endeten mit Hausaufgaben für ihn. Innerlich seufzend griff er nach seinem Smartphone und tippte auf „Lisa Teibl“. Es klingelte ein paarmal, sodass er in Versuchung kam, aufzulegen. Schließlich hatte er versucht, sie zu erreichen und entsprach damit mit etwas Wohlwollen ihrer Absprache. Doch Lisa war schneller: „Hallo Dieter“, grinste sie durch das Telefon. Sie schien sich immer sehr auf diese Gespräche zu freuen. Vielleicht, so dachte Dieter, freut sich auch der Schlachter auf das Lamm. „Wie war dein Tag?“ Dieter überlegte eine Weile. Allzu unüberlegte Antworten ließ sie nie gelten. „Ich habe ein Problem mit dem Classroom Management“. Lisa antwortete nicht. Das tat sie häufig und er wusste, dass sie ihm damit Zeit zum Nachdenken gab, wie es Sokrates einst auf dem Marktplatz von Athen zu tun pflegte. Er hoffte, dass die Leute von selbst auf den richtigen Trichter kamen. Spätere Generationen nannten dies Hebammenkunst oder Maieutik. Es gibt drei gute Gründe zum Schweigen, pflegte Lisa zu sagen, und dies ist einer davon. „Franziska hinterfragt meine Anweisungen, obwohl sie eigentlich eine gute Schülerin ist,“ konkretisierte Dieter sein Problem. Diesmal antwortete Lisa: „Franziska hast du mir gegenüber bislang nicht erwähnt. Warum nicht?“ Die Antwort lag auf der Hand: „Weil sie gute Leistungen erbringt. Leider bremst sie den Unterricht oft aus, indem sie diese lästige Sinnfrage stellt. Damit bringt sie die ganze Lerngruppe gegen mich auf!“ Dieter wurde ein wenig wütend.
Lisa ließ sich Zeit: „Welche Antwort hast du ihr gegeben, als sie nach dem Sinn der Aufgabe fragte?“ Jetzt wurde Dieter richtig trotzig, denn er wusste, denkbar schlecht auf Franziskas Frage reagiert zu haben. Vielleicht konnte er den anstehenden Vortrag abkürzen, wenn er sich selbstkritisch zeigte: „Ich habe eine wenig souveräne Antwort gewählt, indem ich auf die alte Leier „Weil ich das sage“ zurückgegriffen habe. Das kann Franziska natürlich nicht zufriedenstellen. Aber was hätte ich sagen sollen?“ Die Antwort war ungewöhnlich präzise: „So wie du Franziska beschreibst, handelt es sich wohl kaum um Protest aus Prinzip, sondern um eine interessierte Nachfrage. Erkläre in einem solchen Fall in einem kurzen Satz den Sinn der Aufgabe und eröffne dann den Arbeitsprozess, um weiteren Zeitverlust zu verhindern.“ Dieter formulierte seinen Einwand sorgsam: „Das habe ich schon wiederholt versucht. Luca und einige andere schwächere Schüler nutzen meine Rechtfertigungen regelmäßig zum Zeitschinden, indem sie stets neue Einwände vorbringen, statt sich um den Lernprozess zu bemühen.“
Das Grinsen durch die Leitung war deutlich hörbar: „So wie du gerade, Dieter? Der Unterschied zwischen Luca und Franziska sollte dir klar sein.“ Dieter schmunzelte. Er fühlte sich ertappt wie ein kleines Kind, das sich heimlich an der Schokolade bedient hat. So schwierig diese Gespräche waren, er spürte jedes Mal, dass sie ihm nachhaltig halfen. Hier konnte er offen sprechen: „Vermutlich hat mich geärgert, dass ich keine gute Antwort auf die Frage parat hatte. Einer meiner Professoren sagte einmal, dass er jede Woche 90min Lebenszeit von mir beanspruchte und dies als große Bürde empfände. Lebenszeit sei kostbar. Dies habe ich mir zu Herzen genommen und bemühe mich daher darum, sinnvollen Unterricht zu halten.“ „Das weiß ich doch, Dieter. Und das gelingt dir häufig schon sehr gut,“ kommentierte Lisa. „Und in der Tat ist das eine große Verantwortung, der viele LehrerInnen sich nicht recht bewusst sind. Denn wir beanspruchen meist mehr als 90min Lebenszeit jede Woche. Wo liegt also der Unterschied zu Luca?“
„Franziska hat gemerkt, dass die Aufgabe mit heißer Nadel gestrickt war und den Finger in meine Wunde gelegt.“ Da wurde Dieter klar, dass Lisa gleich mit einem anderen Schlagwort kommen würde und nahm es rasch vorweg: „Das war ein Alphatest, nicht wahr? Und ich habe ihn verbockt.“ Stille am anderen Ende der Leitung drängte ihn zu einer sorgfältigeren Ausführung dieses Gedankens: „Menschen testen regelmäßig aus, ob ihre Vorgesetzten die Richtigen für diese Position sind. Sie tun dies zumeist unbewusst, doch wenn man dafür sensibilisiert ist, erkennt man dieses Phänomen überall. Diesen Alphatest habe ich bereits in der Stundenplanung verloren.“ Dieter freute sich über seine Erklärung und darüber, seine Fortschritte so direkt spüren zu können. Dank Lisa und den anderen aus der Gruppe hatte er eine andere Wahrnehmung auf Probleme gewonnen
„Korrekt“, erwiderte Lisa „aber über Alphatests reden wir ein andermal intensiver. Das ist nicht das dringlichste Thema der von dir beschriebenen Situation.“ Dieter war nun richtig im Gespräch angekommen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass mit den richtigen Leuten und der richtigen Einstellung Gespräche möglich waren, die den Denkhorizont erweiterten. Dafür ließ er gerne die Hosen runter, so ungemütlich es manchmal auch war. So war er ob ihres Widerspruchs zwar etwas düpiert, freute sich aber auf ihre Beobachtung. Was war ihm entgangen? „Du hast nun erläutert, was du bei Franziska beobachtet hast und wie du das interpretierst. Das hast du gut reflektiert, Respekt. Aber was ist mit Luca?“ Dieter winkte ab: „Der will nur Zeit schinden, um möglichst wenig zu lernen.“ Jorge kam ihm in den Sinn und ohne weiter nachzudenken sagte er: „Das Pferd muss schon selbst saufen.“ Er wusste, dass Lisa widersprechen würde und war überrascht, dass sie es nicht tat. Stattdessen fragte sie: „Welche Gründe könnte das Pferd denn haben, nicht zu saufen?“ Dieter stutzte. Beide schwiegen. „Nun…“ setzte er an und wurde wieder still. „Das Pferd ist vielleicht nicht durstig? Aber das ergibt in Lucas Fall keinen Sinn. Dieses Pferd hätte einen Schluck Wasser dringend nötig und weiß das vermutlich auch.“ „Dann ist das wohl nicht der Grund“, lobte Lisa. „Weitere Ideen?“ Eine fiel ihm noch ein „Vielleicht traut es dem Wasser nicht. Oder dem Bauern, der das Wasser gebracht hat.“ „Kannst du das auf deine Situation anpassen?“ Dieter spürte hier etwas auf der Spur zu sein, konnte das Bild aber nicht deuten. Lisa registrierte sein Zögern und sprang für ihn ein: „Dein Pferd hat Angst vor dir und deinem Wasser. Und recht hat es. Du redest schlecht darüber und signalisierst ihm regelmäßig, dass es deinen Ansprüchen nicht genügt. Um aus der Metapher wieder herauszufinden: Luca ist in ständiger Sorge, seine fehlenden Kenntnisse könnten ihn in eine unangenehme Lage bringen. Zu den elementaren Bedürfnissen deiner SchülerInnen gehört Angstfreiheit. Das ist auch in deinem Interesse, denn Angst lähmt und hemmt die Energie in deiner Lerngruppe. Teil deiner Aufgaben als Lehrer ist es, für positive Energie zu sorgen. An der Menge an konstruktiver Energie im Lernraum kann übrigens auch deine Führungsqualität bemessen werden, aber das ist ein anderes Thema. Dass du eine Aufgabe nicht hinreichend durchdacht hast, ist halb so wild. Du kannst nicht jede Fragestellung perfekt auf den Zweck der Unterrichtsreihe abstimmen. Es ist hervorragend, dass du das Problem dahinter und sogar den damit verbundenen Test an deine Person erkannt hast. Ärgerlicher ist die sorgenvolle Atmosphäre, mit der gerade schwächere SchülerInnen in der Schule oft leben müssen. Luca in deinem Falle. Sicher erinnerst du dich an ähnliche Zustände in deiner eigenen Schulzeit.“ Sicher kannte Dieter die. Er spürte Unwohlsein in sich aufsteigen, als ihm sein Mathelehrer vor Augen trat. Dieser forderte gezielt SchülerInnen, die schlecht vorbereitet waren, dazu auf, an der Tafel etwas vorzurechnen. Er erinnerte sich an den Kunstunterricht, in welchem er zwischen Lena und Simon saß. Gute Freunde von ihm, die maßstabsgetreue Zeichnungen der Sagrada Familia oder von Neuschwanstein anfertigten, während er die Cheopspyramide, die nicht gerade für ihr komplexes Äußeres bekannt ist, verunstaltete. Er nickte, bevor er sich daran erinnerte, dass er ein Telefonat führte: „Ja, an dieses Gefühl kann ich mich gut erinnern.“ Es ließ sich nicht mit Sicherheit sagen, ob sein Unwohlsein auf diese Erinnerungen zurückzuführen war oder auf Schuldgefühle gegenüber Luca.
Lisa seufzte: „Leider gibt es in unserem Schulsystem den ein oder anderen Mechanismus, der fast unweigerlich zu Sorgen bei den SchülerInnen führen kann. Die Selektionsfunktion, um nur einen zu nennen. Glücklicherweise können wir entgegenwirken. Hast du eine Idee?“
Dieter war froh, wieder etwas Konstruktives beitragen zu können: „Wir können dafür sorgen, dass möglichst viele Kinder möglichst häufig ein Erfolgserlebnis haben. Das könnten schon kleine Dinge sein, durch die sie Selbstvertrauen tanken.“
„Gute Idee“, lobte Lisa, „die auf der Planungsebene deiner Stunden beruht. Aber auch im Unterrichtsgeschehen kannst du durch ehrliche, individuelle Wertschätzung deiner SchülerInnen zu diesem Ziel beitragen.“
„Was ich von denen denke, merken die doch gar nicht“, konterte Dieter, berichtigte sich dann aber selbst: „Aber meine Wahrnehmung beeinflusst mein Handeln. Ich habe mal gelesen, dass LehrerInnen diejenigen SchülerInnen tendenziell besser benoten, von denen man ihnen zuvor sagte, sie erbrächten hervorragende Leistungen. Was sie nicht taten. Ich fördere das, was ich sehe. Fokussiere ich mich auf die Löcher im Käse, rücken diese in den Mittelpunkt. Betone ich Positives, fördere ich es zugleich.“
„Ich denke, wir sind hier fertig“, sagte Lisa. „Du kennst natürlich unser schulisches Bedürfnismodell?“ „Ich weiß, dass es das gibt“, wand Dieter sich. „Ich versuche Menschen eher als Individuen, denn als Mitglieder einer Gruppe oder gar einer Spezies zu sehen.“ „Dann verkennst du aber, dass jeder Mensch auch als Teil einer Gruppe betrachtet werden kann und in unserem Fall auch muss. Du kannst unmöglich die Bedürfnisse aller deiner 150 SchülerInnen auf einer so persönlichen Ebene kennen. Das ist aussichtslos und führt dazu, dass du nur noch ausgewählten Kindern gerecht wirst. Die grobe Einteilung in Gruppen macht also Sinn, auch wenn wir in der Tat gut daran tun, sie nicht ausschließlich als Teil dieser zu betrachten.“ Dieter lehnte es zwar ab, Menschen in Schubladen zu stecken, erklärte sich für den Moment aber bereit: „Ich werde das Modell ausdrucken und irgendwo in die Küche hängen, damit ich regelmäßig einen Blick darauf werfe.“
Sie verabschiedeten sich und Dieter packte seinen Basketball in die Sporttasche. Der körperliche Ausgleich zum Arbeitstag war nun sehr willkommen.
Lehrende als Leistungssportler
Lisa sah sich in der Gruppe um. Sie kannte die meisten Anwesenden, nur ein Neuzugang hatte sich diesmal angeschlossen. Der Braintrust, so nannten sie diese spezielle Form der Fortbildung, litt nicht gerade unter einem unkontrollierbaren Zustrom an neuen Mitgliedern. Aber das war schließlich Sinn und Zweck der Sache und die Hürden für die Teilnahme setzen die Veranstalter bewusst hoch. Unmotivierte LehrerInnen würden bei dieser Art Veranstaltung nur die Energie herabsetzen. Etwas wütend dachte sie an Jorge und schüttelte den Kopf, während sie geistesabwesend nach den Walnüssen griff. Sie war schon lange dabei und hatte sich daran gewöhnt, dass es beim Braintrust weder Süßigkeiten noch gezuckerte Softdrinks sondern Nüsse, Beeren und Tee gab. Sie schielte zu Dieter hinüber, der bis heute das jüngste Mitglied ihres Teams gewesen war. Erst kürzlich hatte er sein Referendariat abgeschlossen. Dieter konnte zunächst nichts mit dieser Art der Verköstigung anfangen. Dem Neuzugang Christian schien es nun ebenso zu gehen. Er lächelte freundlich aber die Enttäuschung war ihm anzumerken, als an Lisa herantrat. Er griff ebenfalls in die Schale und betrachtete die entnommene Pekannuss skeptisch: „Sind wir nicht hier, um an unseren Unterrichtsmethoden zu feilen?“
„Methoden sind so eine Sache“, erwiderte Lisa und steckte sich die Walnuss in den Mund. Das gab ihr etwas Zeit zum Nachdenken. Es würde sich wohl noch eine Zeit lang ungewohnt anfühlen, andere LehrerInnen zu coachen, wo sie doch selbst häufig unsicher war. Aber von dieser wechselseitigen Unterstützung lebte der Braintrust. „Methoden sind immer abhängig von der Person, die sie nutzt. Ein gut gepflegter Methodenkoffer ist ein wertvolles Werkzeug, ohne Frage, da kannst du jeden Sportler fragen. Aber nur weil du den Fallrückzieher theoretisch perfekt durchdacht hast, kannst du damit noch kein Tor schießen. Das liegt zum einen daran, dass die Situation auf dem Feld, in unserem Fall der Klassenraum, nur selten der sterilen Trainingssituation entspricht. Auch die beste Methode müssen wir manchmal in Sekunden auf die vorliegenden Verhältnisse übertragen. Zum anderen muss dein Körper überhaupt in der Lage sein, ein so komplexes Manöver durchzuführen. Wer körperlich nicht entsprechend ausgebildet ist, verletzt sich bei der Aktion bloß.“ Lisa dachte dabei ein wenig an Dieter. Der hatte in der kurzen Zeit in ihrem Team deutlich an seiner Gesundheit gearbeitet, angefangen Basketball zu spielen und die ersten Kilos verloren.
Christian schien etwas perplex. Vielleicht hatte er damit gerechnet, dass man ihm in seiner Klage zustimmen würde. LehrerInnen unterstützen sich schließlich häufig in ihren Klagen. Hier im Braintrust pflegte man eine andere Herangehensweise, mit der aber nicht alle Leute klarkamen. Immerhin dachte Christian einen Moment über Lisas Vergleich nach, statt direkt zu widersprechen: „Aber ich bin doch nicht Christiano Ronaldo. Außerdem glaube ich, dass man bestimmte Dinge gar nicht lernen kann, wenn man nicht das nötige Talent dazu hat.“
„Talent wird überschätzt“, stellte Lisa richtig. „Um richtig gut in etwas zu werden, braucht es viel mehr Übung, ein klares Commitment und ein konstruktives Umfeld. Das kannst du bei Ericsson und Pool nachlesen.“ Schnell setzte sie nach: „Möchtest du nicht der Christiano Ronaldo an deiner Schule sein? Denn das sind die Leute, mit denen ich mich unterhalten und von denen ich lernen möchte. Spieler der Kreisklasse, die ständig über den Schiedsrichter jammern, gibt es genug. Mit denen arbeiten wir hier nicht gerne.“
Sie konnte sehen, dass Christian sich angegriffen fühlte. Es kostete sie noch immer Überwindung, so offen mit den Leuten zu sprechen. Sie hatte das Bedürfnis die Neuzugänge schonend zu behandeln und überhaupt empfand sie es als leichter, Leute in ihrer Haltung zu bestätigen als ihnen zu widersprechen. Aber Bequemlichkeit ist hier nicht Teil des Programms. Und Christian überraschte sie, indem er auf einen Grundsatz des Programms verwies. Offensichtlich hatte er sich vorher gut informiert: „Gute LehrerInnen sind LeistungssportlerInnen, richtig?“ Lisa nickte bloß. Innerlich war sie erleichtert, dass der Neue mit der Kritik umgehen konnte. Allerdings war das bei den meisten Leuten hier so. „Richtig. Der Schultag kann sehr lange sein. Ich persönlich habe häufig das Gefühl, dass die Treppen zum Lehrerzimmer am Ende des Schultages steiler sind als am Morgen. Wer da in der 6. Stunde noch einen beeindruckenden Fallrückzieher hinlegen will, muss körperlich in einem guten Zustand sein.“ Ihr Gesprächspartner sah sich im Raum um. Sie konnte sehen, dass er den körperlichen Zustand der anderen Teilnehmer in Augenschein nahm. Schließlich griff er nach dem ungezuckerten, grünen Tee und schenkte erst Lisa und dann sich eine Tasse ein. „Im Nachmittagsunterricht spüre ich den Tag häufig schon in den Knochen“, bestätigte er ihre Erklärungen. „Wie soll das denn werden, wenn ich älter bin?“ „Wir müssen uns eben fit halten“, sagte Lisa und trank von dem etwas bitteren Tee. Mittlerweile schmeckte er ihr richtig gut.
„Aber es geht nicht nur darum, dass wir die Treppen bewältigen können. Viel wichtiger ist, dass wir Menschen ein sehr feines Gespür dafür haben, wie gesund die anderen Mitglieder unseres Rudels sind. Insbesondere in Bezug auf die Personen, die mit Entscheidungen betraut sind. Wenn der Silberrücken der Gruppe beispielsweise geistig nicht auf der Höhe ist, wird er bei drohenden Gefahren versagen. Der römische Satiriker Juvenal wünscht sich „einen gesunden Geist in einem gesunden Körper“. Diese Qualitäten suchen wir in denen, die uns übergeordnet sind und prüfen das beständig. Wir nennen das hier Alphatests.“ „Und wie sieht so ein Test aus?“, fragte Christian, während er sich nachdenklich mit der Hand durch die Haare fuhr. „Der kann ganz verschiedene Formen annehmen. Alles, was du im Schulalltag als Provokation dir gegenüber empfindest, ist mit gewisser Wahrscheinlichkeit ein Alphatest. Und deine Reaktion entscheidet, ob du dich als Anführer der Gruppe bewährst oder nicht. Daraus wiederum folgt, ob man dich respektiert oder nicht. Im Gegensatz zu den Affen können die SchülerInnen dich nicht aus deiner Position verdrängen. Sie können dich nur mit Geringschätzung strafen. Du kennst solche LehrerInnen, die ihren Status vor der Klasse verloren haben und deswegen keine Handhabe mehr im Unterricht hatten. Wir nehmen solche AnführerInnen nicht ernst.“
Christian dachte an seine Schulzeit zurück. Er hatte eine Französischlehrerin, die nicht gut Französisch gesprochen hatte. Sie hatte wahrlich keinen leichten Stand in der Klasse, ständig wurde sie von ihm und dem Rest der Klasse vorgeführt. Man bereitete Fragen vor, um sie in Verlegenheit zu bringen und erlaubte sich allerlei Späße mir ihr. Einmal hatte sie unter Tränen den Unterricht verlassen. Heute tat Christian das Leid. Doch warum hatten sie sie so behandelt? Er konnte sich an keinen bewussten Vorsatz erinnern und schon gar nicht daran, die Lehrerin auf ihre Führungstauglichkeit testen zu wollen. „Die SchülerInnen kennen doch dieses Statusspiel gar nicht“, erwiderte er nach einer Weile. „Ich jedenfalls wusste damals nicht, aus welchem Grund ich meine Lehrerin provoziert habe.“ Diesen Einwand hatte Lisa kommen sehen: „Die Affen wissen das auch nicht, mein lieber Christian, und dennoch tun sie es. Sieh es als eine Art Instinkt. Ein schwacher Anführer bringt das ganze Rudel in Gefahr. Das haben wir in unseren Genen. Und SchülerInnen haben ein besonderes Näschen dafür, Schwachpunkte zu wittern. Wenn wir hingegen auf der Höhe unserer geistigen und körperlichen Kräfte sind, haben wir ein besseres Standing vor der Klasse.“
„Aber chronisch Kranke sind doch nicht automatisch schlechte Lehrer!“ kritisierte Christian. „Ich erinnere mich an einen Geschichtslehrer, der kaum noch sehen konnte und zudem eine Gehhilfe benötigte. Er hätte unser Affenrudel niemals vor einfallenden Feinden verteidigen können. Dennoch haben wir ihn geschätzt und respektiert.“
„Wir wollen den Vergleich zwischen einem Klassenraum und einem Rudel Affen nicht überstrapazieren“, verteidigte Lisa sich. „Natürlich geht es nicht allein um körperliche Fitness. Unser Status setzt sich aus verschiedenen Aspekten zusammen und es gibt verschiedene Arten guter Lehrer. Gesundheit stärkt unser Standing, ist aber nicht der einzige, alles entscheidende Faktor.“
Christian beäugte die Snackauswahl noch immer skeptisch. „Ein paar kleine Änderungen an meiner Ernährung kann ich sicher vornehmen, ohne mich allzu sehr im Verzicht üben zu müssen.“ Sie waren beide so tief in Gedanken gewesen, dass sie fast vergessen hätten, an der Gesprächsrunde teilzunehmen. Heute sollte es um Glaubenssätze gehen.
Innere Haltung
Christian war froh, an dem Braintrust teilnehmen zu können. Es ist schließlich kaum möglich, nach bestandenem Referendariat noch verlässliches Feedback zu bekommen. Nur die SchülerInnen sahen seinen Unterricht, seine Methoden, seinen Umgang mit Fehlern, seine Unterrichtsmaterialien. Im Kollegium galt die unausgesprochene Regel, jeden sein Ding machen zu lassen und bloß niemandem zu nahe zu treten. Die beim Braintrust anwesenden KollegInnen hingegen nahmen kein Blatt vor den Mund und ließen ihrerseits die Hosen bis zu den Knöcheln herunter. So eine konstruktive, seine Entwicklung fördernde Umgebung hatte es bislang nicht gegeben. Das Format „Schule“ sieht einen solchen Austausch nicht vor, der vielzitierte Slogan „lebenslanges Lernen“ bleibt ein frommer Wunsch. Heute standen mehrere, abwechslungsreiche Formate auf dem Programm, in deren Rahmen er sich über die Schwierigkeiten anderer informieren und an Lösungsansätzen mitwirken konnte. Obligatorisch war die „Galerie“ zu Beginn eines Braintrust, in welcher jeder Teilnehmer erläutert, inwieweit er die nach dem letzten Termin gesteckten Ziele erreicht hat. Ein nicht sehr großer Mann Mitte Zwanzig trat vor. Christian war der Neue in der Gruppe, hatte aber schnell alle Namen gelernt. So viele waren sie schließlich nicht. Der Sprecher hieß Dieter und hatte erst vor kurzem sein Referendariat abgeschlossen. Christian störte sich an dessen Auftreten, das von einer schlumpfartigen Mütze dominiert wurde und auch sonst wenig überlegt wirkte. Das Jackett war abgetragen, das T-Shirt darunter faltig und nicht ganz sauber. Überhaupt wirkte Dieter beim Laufen… ja wie eigentlich? Die Schultern waren hochgezogen, der Kopf etwas gesenkt, der Rücken leicht gebuckelt. „Schwach“, entschied Christian. „Er wirkt schwach“, und dachte dabei an Lisas Erläuterungen zu Führungspersönlichkeiten. Er schaute zu ihr herüber und fand ihren Blick bereits auf ihn gerichtet. Hatte sie denselben Gedanken gehabt? Mit dieser Körpersprache würde er es vor der Klasse schwer haben. „Kinder wittern schwache Lehrer“, dachte Christian. Dieter fand seinen Stand vor der kleinen Zuhörerschaft und nahm sich ein paar Atemzüge Zeit. Christian konnte förmlich mithören, wie der Referent eine gedankliche Checkliste durchging. Danach hatte sich sein Standing verändert. Seine dämliche Mütze trug er noch immer, aber seine Körperhaltung war jetzt die einer Autoritätsperson. Schultern entspannt, Rücken gerade die Gruppe fest im Blick, ohne jemanden anzustarren.
Eine Kollegin – „Mist, jetzt ist mir doch ein Name entfallen.“ – lehnte sich zu Christian herüber und sagte leise: „Zum Thema Mimik und Gestik habe ich einmal mit Dieter gearbeitet. Man sieht erste Erfolge, findest du nicht?“ Christian nickte bestätigend, hielt seine Augen aber nach vorne gerichtet. „Marie,“ fiel es ihm schließlich ein, „Marie hieß die Kollegin.“
„Liebe KollegInnen“, hob Dieter schließlich an, „die äußere Haltung ist entscheidend dafür, wie wir wahrgenommen werden.“ Während er sprach, zog er seine alberne Mütze aus. Ob er mit den Veränderungen seiner Haltung bewusst gespielt hatte und womöglich auch das Ablegen seiner Kopfbedeckung planvoll in seinen Auftritt integriert hatte, konnte Christian nicht sagen. Er beschloss, seinen Kollegen hinterher darauf anzusprechen. „Doch so sehr die äußere Haltung bestimmt, wie wir bei anderen angekommen, so sehr bestimmt unsere innere Haltung unsere Wahrnehmung der Außenwelt.“ Christian nickte innerlich. Wahrnehmungsmodelle standen immer wieder im Zentrum ihrer Arbeit. Es war ihm schleierhaft, wie er bislang blind für diese Denkmuster durch die Welt gehen konnte. Und es deprimierte ihn ein wenig, dass die meisten LehrerInnen wohl in Pension gehen werden, ohne jemals darüber informiert worden zu sein. „Bitte versetzt euch in die folgende Situation: Ihr seid auf dem Weg zu einem Elterngespräch. Anika schreibt fächerübergreifend hervorragende Noten. Auch bei dir hat sie auf dem letzten Zeugnis ein glasklares „sehr gut“ verbuchen können. Für das anstehende Jahreszeugnis hingegen hast du ihr ein „gut“ angekündigt. Üblicherweise stellt eine so gute Zensur keinen Grund für ein Elterngespräch dar, daher finden sich unter deinen Gedanken einige ungebetene Gäste: ‚Was man mir wohl vorwerfen wird? Wie würde sich die Schulleitung positionieren? Warum können gute SchülerInnen sich nicht mal mit einer 2 zufriedengeben?‘ Also gehst du gut vorbereitet in das Gespräch und kannst lückenlos erklären, inwiefern du keine sehr gute Leistung feststellen konntest. Du hast deine Stundenprotokolle dabei und kannst aufzeigen, in welchen Stunden eine hohe oder eben nur eine durchschnittliche Mitarbeitsleistung vermerkt werden konnte. Als du nun die Hand auf die Klinke des Besprechungszimmers legst, wirst du ein wenig wütend. Es gibt schließlich keinen Grund für die Eltern, sich zu beschweren. Aber so sind die Eltern von besonders guten SchülerInnen nun mal. Sie haben kein Verständnis dafür, wenn wir keine Bestnoten vergeben.“
Fast hätte Christian laut den Begriff „Glaubenssatz!“ ausgerufen. Bestimmt wollte Dieter darauf hinaus, dass wir unsere Glaubenssätze kritisch hinterfragen und regelmäßig ausmisten müssen. Doch es kam anders.
„Beide Eltern waren anwesend. Das kommt selten vor und kann sicher nur dem Vorhaben dienen, dich zahlenmäßig einzuschüchtern. Dir steht sicher ein anstrengendes Gespräch bevor. Dennoch begrüßt du die Eltern professionell, stellst dich vor und setzt dich. Dabei stößt du dir das Schienbein am Pult. Der Schmerz ist vernachlässigbar, aber was müssen deine Gäste von dir denken? Dieses Gespräch entwickelt sich gänzlich in die falsche Richtung. Der Vater übergeht dein Stolpern, stellt sich und seine Frau als Anikas Eltern vor und kommt dann zu dem Grund ihres Besuchs: ,Anika hat uns erzählt, dass auf dem Jahreszeugnis eine 2 bei ihr stehen wird. Könnten Sie uns erklären, wie sie diesen Absturz von Anikas Leistung erklären?`
Es kam also genau so, wie du es erwartet hast. Man verlangt eine Rechtfertigung von dir für die Note. Du kannst jetzt verschieden Strategien anwenden. Vielleicht möchtest du auf deine Ausbildung verweisen und darauf, dass du für Leistungsbewertung ausgebildet bist. Welche Qualifikation liegt schließlich bei den Eltern vor, dass sie dich in deiner Autorität so offen anzweifeln? Vielleicht hebst du betont Anikas Schwächen hervor. Vielleicht verweist du zunächst darauf, dass es keinen Grund für Anschuldigungen gibt.“ Dieter betonte den folgenden Satz sehr deutlich: „Jede dieser Strategien geht meilenweit an der Sache vorbei und endet mit großer Wahrscheinlichkeit nicht in einem konstruktiven Gespräch.“
Christian nutzte die angebotene Denkpause und erwog weitere Reaktionen, kam aber zu keinem Ergebnis. Wie sollte man den vorgebrachten Vorwurf entgegentreten? Er war gespannt auf Dieters Vorschlag zur Deeskalation.
„All die genannten Strategien verfehlen das Ziel, weil sie auf einer stark gefärbten Wahrnehmung beruhen. Der beschriebene Kollege fürchtete einen Angriff und hat diesen dann auch gesehen. So funktioniert unsere Wahrnehmung, sie lässt uns das sehen, was wir suchen. Wenn ihr das nächste Mal durch eine euch vertraute Fußgängerzone spaziert, achtet mal bewusst auf die zweite Etage der Häuser. Sicher sind euch die bislang nie bewusst aufgefallen. Warum auch? Eure Wahrnehmung war vermutlich auf Läden im Erdgeschoss gerichtet, die entweder Essen, Kleidung oder last-minute Weihnachtsgeschenke anbieten. Wer Streit erwartet, wird ihn finden. Nichts in dem, was Anikas Vater sagte, war gegen dich gerichtet. Doch du sahst dich in einem Boxring und hast die Fäuste zur Verteidigung erhoben, warst sogar auf einen schnellen Konterangriff vorbereitet. Eine konstruktive innere Haltung könnte wie folgt lauten: Die Eltern kommen zu mir mit einem Problem. Ich möchte Ihnen dabei helfen, dieses Problem zu lösen. Es ist löblich, dass beide Eltern sich die Zeit für das Gespräch nehmen, das zeugt von Interesse dem Kind gegenüber und Wertschätzung gegenüber meiner Person.
Nun also zu mir. Ich habe mir für die letzten Monate das Ziel gesteckt, an meiner inneren Haltung zu arbeiten. Dabei ist es mir gelungen, viel unbefangener und positiver in potenziell belastende Situationen zu gehen und ich habe bemerkt, dass die meisten Leute gar nicht auf Streit aus sind. Die Menschen haben Sorgen und greifen zu den ihnen vertrauten Bewältigungsmechanismen. Diese können den Eindruck erwecken, gegen meine Person gerichtet zu sein, das sind sie aber selten. Diese Erkenntnis hat mir viel emotionalen Druck genommen und gleichzeitig dazu beigetragen, Probleme klarer zu sehen, indem ich den verzerrenden, fast blickdichten Schleier meiner Erwartungen wegziehe.“
Marie meldete sich und richtete eine Frage an Dieter: „Danke, dass du diesen Fortschritt mit uns geteilt hast. Ich möchte dich nach einer anderen Zielsetzung fragen, die wir vereinbart hatten. Du wolltest dir einen Habit-Tracker zulegen, um an deinen Gewohnheiten zu arbeiten. Du wolltest beispielsweise jeden Tag für 15 Minuten meditieren. Wie sieht es damit aus?“
Christian konnte beobachten, wie Dieters Haltung unsicher wurde. Er senkte den Blick und seine Finger bewegten sich nervös. Aber nur für einen Moment: „Den Tracker habe ich angelegt, ihn aber nur unregelmäßig genutzt. Das Meditieren fällt mir schwer. Oft drängt sich mir währenddessen eine eMail ins Bewusstsein, die noch geschrieben werden muss oder ein Fehler in einer konzipierten Klassenarbeit, den ich sofort korrigieren möchte, bevor ich es schließlich vergesse. Und dann breche ich die Meditation häufig vorzeitig ab.“
Eine Geschichte aus der Zen-Philosophie fand ihren Weg in Christians Bewusstsein:
Der Schüler kam zu seinem Meister und sagte: „Meister, das Meditieren fällt mir so schwer. Meine Gedanken strömen unkontrolliert und meine Füße schlafen ein. Ich komme nicht zu mir.“ Der Meister antwortete ruhig: „Das geht vorüber.“ Viel später trat der Schüler erneut an ihn heran und sagte voll Freude: „Meister, ich komme nun viel häufiger zur Ruhe. Meine Meditationen gehen immer tiefer.“ Der Meister hob eine Augenbraue, lächelte sanft und erwiderte: „Das geht vorbei.“
Führungsstile
Dieter stand vor der Klasse. Wenngleich er das Sitzen in Stillarbeitsphasen bevorzugte, um den SchülerInnen Raum zu geben, wollte er doch immer wieder einen Kontrollgang durch die Reihen unternehmen. So beobachtete er, wie einige SchülerInnen bereits lange vor Ablauf der Arbeitszeit fertig waren und jetzt zwar leise, aber auch gelangweilt herumsaßen. Andere versuchten mit viel Konzentration ein Loch in das noch unbeschriebene, weiße Blatt vor ihnen zu starren. Sie hatten den Arbeitsauftrag noch nicht einmal in das Heft übertragen. Also setzte sich Dieter wieder an sein Pult und erlaubte sich eine kurze Reflexion. Er öffnete die Notiz-App seines Tablets und die mit „Beobachtungen“ überschriebene Datei. Dort ergänzte er „Führungsstile an Bedürfnisse der SchülerInnen anpassen.“ Er wollte diesen Arbeitsauftrag mit dem zweiten der fünf Führungsstile ablaufen lassen, mit der Führung über Aufgaben. Dabei wird den SchülerInnen eine Aufgabe übertragen, die sie zu erledigen haben. Das kann die Übersetzung eines Textes, das Abschreiben eines Tafelbildes, das Lösen einer mathematischen Aufgabe oder das Ausmalen eines Mandalas sein. Die Aufgabe ist klar umrissen, die Bearbeitung liegt aber in der Eigenverantwortung des Einzelnen. Einige, so beobachtete Dieter, kamen damit auch gut zurecht. Ebenfalls Teil seiner spontanen Diagnose war aber auch, dass Luisa überfordert damit war, sich selbst zu organisieren. Ebenso deutlich wurde ihm, dass Ben die Aufgabe zwar gewohnt locker erledigt hatte, mit der übrigen Zeit aber nichts anzufangen wusste. Für Ben konnte er heute nichts tun, dieser Planungsfehler ließ sich nicht ad hoc beheben. Luisa hingegen konnte geholfen werden, indem er auf den ersten der Führungsstile zurückgriff: Das Führen durch Zwang. Er ging zu Luisa, kniete sich neben sie, um Augenhöhe herzustellen und sagte dann: „Luisa. Ich sehe, dass du auch nach 8 Minuten Arbeitszeit noch nichts getan hast. Nicht einmal Überschrift und Datum kann ich in deinem Heft sehen. Du hast noch Zeit übrig, nutze diese bitte, sonst werde ich das als Leistungsverweigerung werten. Wenn du Schwierigkeiten mit der Aufgabe hast, helfe ich dir gerne.“ Sie grummelte etwas von einem verlorenen Tintenkiller, schien dann aber selbst nicht so recht auf die Überzeugungskraft dieser Entschuldigung zu vertrauen und blickte an die Power-Point-Präsentation am Whiteboard, um die Überschrift des Arbeitsauftrags zu übernehmen. Dieter blieb noch eine Minute sitzen, um anfallende Fragen zu beantworten. Am Ende der Arbeitszeit war Luisa nicht fertig mit der Aufgabe, hatte aber Teilaspekte ausreichend sorgfältig bearbeitet, sodass Dieter in seinem Stundenprotokoll eine entsprechende Notiz vermerken konnte.
Zu seiner großen Freude hatte er im Lehrerzimmer mittlerweile den ein oder anderen Kollegen kennengelernt, mit dem er sich gewinnbringend austauschen konnte, die sich dafür sogar begeistern ließen. Sie spürten unbewusst, wie ein stimulierendes, im Gleichklang schwingendes Umfeld sie beim lebenslangen Lernen unterstütze. Das Umfeld hatte Dieter schnell als unterschätzten, nahezu unbekannten Faktor für die Entwicklung von Fähigkeiten entdeckt. So traf er sich mit Helena und Tim immer donnerstags nach Schulschluss auf einen Tee in der Lehrerbibliothek. Zwischen den dort versammelten Gesamtausgaben von Homer, Schiller und Orwell ließ sich gut denken. Ob diese auch zu seinem Umfeld zählten? Durch die großen Fenster sah und hörte man die Kinder auf dem Weg zum Bus. Dieter sah Helena und Tim seinem Blick folgen und beide freuten sich sichtlich über den Anblick. „Wahrscheinlich“ so dachte er bei sich „erkennt man wirklich gute Lehrer schon daran, dass sie sich über ihre SchülerInnen freuen. Jorge würde die Gelegenheit sicher nutzen, um sich über irgendetwas zu beklagen“. Vermutlich würde er klagen: „Schule ohne Kinder wäre ein Traum“, oder „Wenn ich diesen Lärm höre, fühle ich mich unterbezahlt.“
Dieter wollte nicht mehr Zeit als nötig auf diese Gedanken vergeuden und schilderte Helena und Tim seine heutige Erfahrung: „Verschiedene Führungsstile in ein und derselben Lerngruppe anzuwenden, gelingt mir noch nicht so recht. Es ist ein Aspekt, den ich immer wieder schon bei der Planung übersehe.“ Tim blickte fragend zu Helena, die ihm erklärte: „In diesem Braintrust, den Dieter besucht, wird von fünf verschiedenen Führungsstilen gesprochen. Diese sind eigentlich für das Führen von Unternehmen konzipiert, lassen sich mit ein paar Änderungen aber auch auf SchülerInnen übertragen. Richtig?“ „Ja“, bestätigte Dieter mit einem Nicken. „Die Situation an der Schule ist natürlich nicht dieselbe wie bei einem Unternehmen. Beispielsweise können Angestellte kündigen, was unsere Kinder nicht können. Dennoch lässt sich einiges daraus lernen. Beispielsweise, dass Klassenführung ohne Zwang eine Illusion ist. Dieses Wunschdenken geht zurück auf Persönlichkeiten, die besonders schlecht im Führen einer Klasse sind. Sie können ihre Unfähigkeit dann damit entschuldigen, dass Strafen eben nicht zu ihnen passten und dass man doch auf die Mündigkeit der SchülerInnen setzen sollte. Ich jedenfalls hatte noch nie eine Lerngruppe, in der jedes Individuum sich mit guten Gründen zu jeder Zeit zum nächsten Arbeitsschritt motivieren ließ.“ „Das gefällt mir nicht“ wendete Tim ein. „Ich will doch nicht der Sklavenaufseher beim Bau der Pyramiden sein und mit eiserner Faust herrschen. Da lasse ich doch lieber mal hier und da einen aus der Reihe tanzen und lebe damit, dass die Fertigstellung der Pyramide etwas länger dauert.“ Dieter konnte rasch antworten, er hatte zunächst ähnlich reagiert: „Die Pyramide, um in deinem Bild zu bleiben, stellt aber die fachliche und persönliche Entwicklung des dir anvertrauten Kindes dar. Und dieses Bauprojekt sollte doch Priorität haben. Wenn hier Lücken entstehen und das fertige Bauwerk später nicht tragfähig ist, wird man sich an uns zwar als gutherzige Menschen, aber als schlechte LehrerInnen erinnern. Ich jedenfalls hatte eine solche Lehrerin zu meiner eigenen Schulzeit.“ Helena nippte an ihrem Tee und kommentierte: „Außerdem ist das Führen mit Zwang nach meinem Verständnis ohnehin nur als Ausnahmelösung gedacht, nicht als Standartwerkzeug, richtig?“ „Richtig. Es geht mir wie dir, Tim. Ich will nicht die Peitsche schwingen. Aber wenn dein Sohn nicht die Zähne putzt, wirst du ihn auch dazu drängen es zu tun und ihn nicht ohne weiteres davonkommen lassen, weil du ihn in seiner Mündigkeit unterstützen möchtest. Er ist eben noch nicht eigenständig genug und das ist nichts Böses. Bernhard Bueb sagt: ‚Führung ohne Kontrolle kann nicht gelingen.‘ Zum Glück arbeiten wir drei an einer Schule, an der wir fast durchgängig mit dem zweiten Führungsstil, dem Führen mit Aufgaben, arbeiten können. Hierbei konzipieren wir die zu bewältigende Aufgabe, erläutern sie, stehen für Fragen bereit und besprechen die Ergebnisse. Das eigentliche Arbeiten liegt bei den SchülerInnen und wird eigenverantwortlich erledigt.“
Das gefiel Tim schon besser: „Eigenverantwortung finde ich gut. Und wenn jemand damit nicht zurechtkommt, sehe ich den Zwang auch gar nicht als Strafe. Stellt es nicht eher ein Hilfsangebot dar, wenn ich dann eingreife? So wie ich meinem Sohn beim Zähneputzen später unangenehme Stunden beim Zahnarzt ersparen möchte?“ „Es wird sicher nicht immer so wahrgenommen werden, aber ja. Genau das ist es. Unsere Strenge dient schließlich nicht dem Bau unserer privaten Pyramiden, wir arbeiten doch an diesen Projekten für unsere Kinder!“ Helena wandte scherzhaft ein: „Da Pyramiden aber Grabmäler sind, fühle ich mich bei dieser Analogie zunehmend unwohl.“ „Der Vergleich hinkt in der Tat“, stimmte Tim zu. Laut dachte er weiter: „Vielleicht gelingt es mir ja auch, den Zwang stets parat zu haben und sozusagen öffentlichkeitswirksam an kritischen Momenten einzusetzen, um letztlich viel weniger darauf zurückgreifen zu müssen. Welche sind eigentlich die noch fehlenden drei Führungsstile?“
Dieter sah auf die Uhr. Es gab noch einiges daheim zu tun. „Die LehrerInnen, die Führen am besten beherrschen, müssen das Führen mit Zwang am wenigsten einsetzen. Sie haben einen für die SchülerInnen klar erkennbaren Referenzrahmen und sind vertraut mit den Strafen, die ihnen bei Missachtung drohen. LehrerInnen, die hier unsicher sind, wirken erratisch. Ein und dasselbe Verhalten wird mal bestraft und mal nicht und mit unterschiedlichen, intransparenten Maßnahmen. Zu Stil 4 und 5 kommen wir ein andermal. sie stellen ohnehin eine recht seltene Ausnahme dar. Die kognitive Entwicklung der Kinder lässt diese Stile nur selten vor der Oberstufe zu, und auch dort nur in wenigen Fällen. Nie wird sich ein Kurs ganz damit anleiten lassen. Den dritten Stil hingegen kann man hin und wieder anwenden, wenn auch nur für Teile einer Klasse. Dabei gibt man festgeschriebene Ziele vor. So könnte das Ziel sein, dass die Vokabeln der letzten vier Lektionen wiederholt werden. Wir stellen keine Aufgaben dazu bereit, jedenfalls nicht für diejenigen, die wir mit Zielen führen wollen.“ „Wie könnte das in Kunst aussehen?“ fragte Helena. Dieter sah, dass Tim zu einer Antwort ansetzte und, obwohl die Frage an ihn gerichtet war, war er auf dessen Antwort gespannt. Man konnte Tim beim Denken förmlich zusehen und bei dem Versuch, das Gehörte nun zu übertragen: „Nun, du könntest das Ziel vorgeben, eine Phantasielandschaft zu gestalten. Ob die Kinder nun in einem Schuhkarton eine 3D-Landschaft basteln, mit Tupfern ein Bild punkten oder Fingerfarben verwenden, ist ihnen überlassen.“ Er schaute zu Dieter, der nickte.
Schon am nächsten Tag stand Dieter in der Klasse, in welcher ihm tags zuvor Luisa und Ben Schwächen seiner Klassenführung aufgezeigt hatten. Heute war er vorbereitet. Auf seiner Präsentationsfolie konnte die Gruppe ihren Arbeitsauftrag lesen: „Erschließe den Text, indem du zunächst Kernbegriffe herausschreibst.“ Unmittelbar nach Beginn der Arbeitszeit stellte sich Dieter in die unmittelbare Nähe von Luisa und gab durch seine Präsenz zu verstehen, dass er sie heute im Blick habe. „Warum stehen Sie heute die ganze Zeit bei mir?“ fragte sie patzig. Dieter wollte sie zwar nicht vor der Gruppe vorführen, aber sie hatte die Diskussion eben lautstark eröffnet. Dann also als Hinweis für alle, dass Zwang dort eingesetzt wird, wo er nötig ist: „Luisa. Du hast in der letzten Stunde nicht nur nicht sorgfältig, sondern zu Beginn gar nicht gearbeitet. Ich bin als dein Lehrer dafür verantwortlich, dass du deine Aufgaben erledigst und gut vorbereitet in die nächste Klassenarbeit gehst. Ich wollte daher beobachten, ob du heute mit mehr Elan zur Sache gehst. Und jetzt fang an zu arbeiten.“ Erst als er davon überzeugt war, dass sie erste Begriffe notiert hatte, schlenderte er zu Ben. Weil dieser nun schon halb fertig war, sagte er leise zu ihm: „Ben, du bekommst heute einen Sonderauftrag. Es ist dein Ziel, den Textinhalt optisch so zu strukturieren, dass seine Kernaussagen deutlich werden. Wie du das tust, ist dir überlassen. Du kannst beispielsweise auf die Struktur-Lege-Methode oder eine Concept-Map zurückgreifen. Schaffst du das?“ Nach der Arbeitsphase konnten die Kernbegriffe gesammelt werden. Luisa schmollte zwar und beteiligte sich nicht durch eigene Beiträge, Dieter hatte aber gesehen, dass sie die meisten davon bereits notiert hatte. Nachdem die Begriffe einzeln besprochen waren, konnte Ben seine Concept-Map zeigen und erläutern, wie sich diese zueinander verhielten. Pausgengong, ein Gang voller kleiner und mittelgroßer Menschen, Treppenstufen, die Dieter vor einigen Monaten noch als viel steiler empfunden hatte, Lehrerzimmer. Dort hörte er gerade Jorge schimpfen: „Der Paul hat heute wieder nicht mitgearbeitet. Diesen Schüler und viele mehr sind gar nicht beschulbar. Früher hätten Eltern ihren Sohn so erzogen, dass er seinem Lehrer mit dem nötigen Respekt begegnet.“ Dieter setzte sich an einen der anderen Tische. Respekt kommt in unserem Geschäft nur denen zu, die ihn sich verdienen.
Autorität
Ein Gong. Dann weitere 15 Minuten Stille. Gedanken zogen vorbei, doch Lisa nahm sie nur zur Kenntnis und ließ sich nicht involvieren. Die Gedanken zogen Vorbei, sie selbst war lediglich Betrachterin. Dann aber kam ihr der Zoff mit ihrer Mutter vor Augen und sie tauchte in den Gedanken ein. Sie meditierte erst seit wenigen Monaten, doch die Änderungen hatten sich schnell eingestellt und waren gekommen, um zu bleiben. So nahm sie achtsam wahr, welche Emotionen diese Erinnerung in ihr auslöste und wo sie diese spüren konnte. Ein Gong, der sie daran erinnerte, sich wieder in die Betrachterrolle zu begeben, ertönte leise und deutlich. Sie fühlte noch einmal in sich und nahm ihren Ärger wahr, bevor sie ihn schließlich wie eine vom Wind getriebene Wolke davonziehen ließ. Ruhe. Fokus. Frieden.
Nach beendeter Meditation blieb Lisa noch einige Minuten liegen, bis ihre Beine aufhörten zu kribbeln. Zwar konnte sie bislang auch länger als eine halbe Stunde meditieren, doch brauchte sie danach eine Weile, bis sie wieder bei sich angekommen war. Sie schüttelte den Kopf. So stimmte es nicht. Bei sich war sie bis eben gewesen, in dem zunehmend angenehmen Zustand der Versunkenheit. Nun musste sie wieder bei allem anderen ankommen und sich selbst ein Stück weit zurücklassen. Eine Tasse Salbeitee für den vom Schultag belasteten Rachen und dann an den Schreibtisch, den sie so einstellte, dass sie daran stehen konnte. Dort lag „Lisas Erfolgsjournal“. Im Braintrust führten einige KollegInnen ein Dankbarkeitstagebuch, aber das war nicht ihre Baustelle. Es fiel ihr leicht, dankbar zu sein. Schwierigkeiten bereitete ihr hingegen ein blinder Fleck in ihrer Selbstwahrnehmung, auf den Dieter sie hingewiesen hatte: Die Analyse ihrer eigenen Stärken und Fortschritte fiel ihr sehr schwer. Daher das Erfolgsjournal. So tat sie sich noch immer schwer damit, ihre Rolle als Führungskraft ihrer Lerngruppen anzunehmen. Im Studium hatte man Begriffe wie „Lernbegleiter“ benutzt, gelegentlich auch Parallelen zum Angler oder Gärtner. Diese Vergleiche übersehen aber eine Tatsache, die vielen LehrerInnen leider unklar ist und ihnen ganz bewusst abtrainiert wurde: Lehrer sind Führungskräfte. Leider ist der Begriff der Führung schwer in Verruf geraten, wird sogar als Gegenbegriff zu Freiheit oder Kooperation verstanden. Dabei ist er deren Grundlage und nicht Gegenspieler. Lisa hatte sich einige Zitate, die sie sich einprägen wollte, farbenfroh zusammengestellt, hinter Glas gepackt und an die Wand über ihren Schreibtisch gehängt. Damit hatte sie wichtige Glaubenssätze wortwörtlich stehts vor Augen. Dort las sie:
„Lehrer sollten sich früh bewusst machen, dass sie führen müssen, dass bilden führen heißt.
Wenn wir an Lehrer denken, sollten wir an Leidenschaft denken, an Autorität und Vorbild.“
Bernhard Bueb
Gerät ein Schiff auf hoher See in einen Sturm, so freut sich der Matrose über einen erfahrenen Kapitän. Von ihm erwartet er Klarheit und Kompetenz, kurz Führung. Das Schwesterschiff mit dem freundlichen Kumpel-Kapitän, der jeden sein Ding machen lässt und auch in ernsten Situationen Toleranz gegenüber Fehlverhalten an den Tag legte, modert schon lange am Meeresgrund. Als es darauf ankam, hatte der sein Schiff nicht im Griff. Immerhin konnten ihn alle gut leiden. Lisa war klar, welche Art Kapitän sie sein wollte. Ihre SchülerInnen sollen wissen, dass sie ihrer Aufgabe gewachsen, konsequent in ihren Entscheidungen und insgesamt geeignet ist, sie dorthin zu führen, wo sie hinwollen.
Dabei war ihr lange Zeit gar nicht klar gewesen, was Klassenführung eigentlich bedeutet. Sie hatte mehr als ein Buch dazu gelesen, aber alle stellten nur die Frage nach dem Wie. Erst im Braintrust hatte sie eine sinnvolle Arbeitsdefinition kennengelernt.
Die drei Merkmale herausragender Führung
- Energie im Klassenraum
- Beitrag für die Gesellschaft
- Zukunftsaussichten unserer SchülerInnen
Lisa hatte sich in diesem Halbjahr eine Lerngruppe ausgesucht, in welcher sie ihre Leistungen bepunktete. Für heute reflektierte sie also in ihrem Erfolgsjournal:
„Die Energie hat heute richtig gestimmt. Der Einstieg in die Stunde lief klasse, die Gruppe ist total auf die Karikatur angesprungen. Ich glaube, sie haben sich ein wenig darüber geärgert. Dieser Ärger ließ sich in eine energische Diskussion wandeln, worauf eine konzentrierte, themenzentrierte Stillarbeit folgte. Gut! 3/5 Punkten.“ Auf einer Skala, die von -5 bis 5 rangierte, war das ein hervorragendes Ergebnis.
„Zudem hat das Thema bei den SchülerInnen kritisches Nachdenken angeregt und ihr Interesse an dem aktuellen Weltgeschehen geweckt. Das ist ein kleiner, aber wichtiger Beitrag zu ihrer Entwicklung als selbstständige und verantwortungsbewusste Menschen, die später ein Teil der Gesellschaft werden. Kein großer Wurf, aber ein echter Beitrag. 1/5 Punkten.“
Da kam sie ins Stocken. Hatte sie heute dazu beigetragen, dass die ihr anvertrauten Kinder sich Fähigkeiten oder Wissen aneignen, welches ihnen in der Zukunft viel Nutzen bringen wird? Einen Eintrag in ihr Erfolgsjournal war es ihr jedenfalls nicht wert.
Die Beine wurden allmählich schwer vom Stehen. Ein kurzer Abstecher zum Kühlschrank, ein paar Beeren waschen und mit dem leckeren Snack auf das Sofa. Dabei blätterte sie ein paar Seiten in ihrem Journal zurück. Sie formulierte ihre Einträge selten so ausführlich wie den heutigen. Dafür war an den meisten Tagen keine Zeit. Ein früherer Eintrag lautete schlicht:
Energie: -2
Beitrag: 2
Zukunft: 1
Sie erinnerte sich an die Stunde. Es war dieselbe Lerngruppe gewesen, die heute so viel Elan mitgebracht hatte. Aber Lisa wusste es besser. Diesen Elan hatten sie nicht mitgebracht, er war in der Stunde entstanden, weil sie dafür die richtigen Voraussetzungen geschaffen hatte. Ein negativer Wert in der Kategorie „Energie“ kann natürlich auch durch äußere Faktoren bedingt sein. Sie hatte aber den Anspruch an sich, ihre Leistungen nicht von widrigen Umständen abhängig zu machen. Jammerlappen, die immer eine Ausrede parat hatten, warum heute kein sinnvoller Unterricht möglich war, gab es schließlich genug. Wenn die Mannschaft wegen hartem Wellengang schlecht geschlafen hat, muss der Kapitän entsprechend mit den Leuten umgehen und ein Arbeitsklima herstellen, in dem keiner aus Nachlässigkeit über Bord geht. Er übernahm Verantwortung für sein Schiff. Der Kumpel-Kapitän erklärte derweilen mit plausiblen Argumenten im Heimathafen, warum ihm die Hälfte seiner Leute abhandenkam. Das Schiff sei für die hohen Wellen nicht geeignet gewesen, Wolken hätten das Navigieren erschwert und ohnehin wären die Ertrunkenen unfähig und selbst schuld gewesen. Diese Faktoren könne er nicht kontrollieren. Jeder Vorwurf an seine Person würde abperlen wie Regen an Schwanengefieder.
Zu Autorität gehört das Übernehmen von Verantwortung gerade dann, wenn nicht alle Faktoren meiner Kontrolle unterliegen. Daran erkennt man starke Führungspersönlichkeiten und dadurch erlangt man Bestätigung in seiner Rolle als Alpha. Niemand wird unterworfen, vielmehr begeben sich die Menschen in das, was Theodor W. Adorno „bejahte Abhängigkeit“ nennt. Gandhi hat niemanden auf den Salzmarsch gezwungen, der maßgeblich zur Unabhängigkeit Indiens von der britischen Kolonialherrschaft beitrug. Die Leute folgten ihm bereitwillig. Der Trainer einer Sportmannschaft steht entweder für den Endstand auf der Anzeigetafel ein und verdient sich so den Respekt der Spieler, oder findet Erklärungen für die Niederlage außerhalb seiner Person. Die Lektion lautet dann, dass Sieg oder Niederlage nicht in seiner Hand liegen. Diese Personen sind nicht geeignet, eine Gruppe zu führen.
Lisa hatte früher andere in die Verantwortung genommen. Der Lehrplan war schuld an ihrem langweiligen Unterricht, ihr Partner für die fehlende Romantik in ihrer Beziehung und die Regierung an den niedrigen Zinsen. Sie war ein Opfer anderer. Dann entschied sie sich, für ihr Leben die Verantwortung zu übernehmen und überarbeitete ihren Unterricht, der nun nicht immer ganz lehrplankonform aber dafür spannend ist. Beschwert hat sich noch niemand. Sie trennte sich von ihrem Partner und beide waren erleichtert darüber. Teile ihres Einkommens investierte sie in Aktien. Dabei fühlte sie sich selbstwirksam und hatte ihr Leben im Griff. Das spürten auch andere, nicht zuletzt ihre Klassen. Sie lebte den Kindern nicht länger vor, die Schuld bei anderen zu suchen, und die SchülerInnen nahmen sie sich darin zum Vorbild.
„Der sicherste Weg seine Autorität zu verlieren ist nicht an sie zu glauben.“
Bernhard Bueb
Gewohnheiten
03.Mai. / 5:50 Uhr
Böswillig und schadenfroh leuchtet das Licht des Weckers, als es diesem beim dritten Anlauf gelungen war, seinen Schützling aus der Horizontalen in die Vertikale zu befördern. Was müssen das für Menschen sein, die Wecker produzieren? Deren Vorfahren haben gewiss auch die Streckbank und den Rattenhelm erfunden. Christian sitzt nun, den Blick starr auf die Tür seines Kleiderschranks gerichtet, auf seiner Bettkante und verflucht sein Leben. Insbesondere den Wecker. Er hat den Ton schon immer gehasst, aber leider hat er den Wecker vor vielen Jahren von einer guten Freundin geschenkt bekommen. Und leider ist das Ding Qualitätsarbeit und wird ihn noch jahrelang heimsuchen. Das längliche Gesicht mit den morgendlichen Bartstoppeln in den Händen vergraben, bleibt er noch einen Moment verschlafen sitzen. Was läuft nicht alles falsch in der Schule. Der Lehrplan zwingt einen dazu, durch den Unterricht zu hetzen. Die Schulleitung nervt mit unklarer Kommunikation und von der Regierung und der angekündigten Digitalisierung wollen wir gar nicht anfangen. Nachdem er sich all diese Probleme durch den Kopf hat gehen lassen, vollzieht Christian sein morgendliches Ritual. Ohne Kaffee geht am Morgen gar nichts. Also führt der noch etwas schwankende Gang zunächst in die Küche, vorbei am Kinderzimmer. So sehr er seinen Wecker verabscheut, so angewiesen ist er auf die Kaffeemaschine. Wenn die Weckerindustrie auf mittelalterliche Folterinstrumente zurückgeht, dann geht der Stammbaum der Kaffeemaschinenhersteller sicher zurück bis zu Mutter Teresa. Kürzlich jedoch quittierte das Vorgängergerät lautstark und übelriechend seinen Dienst. Für einen Vergleich verschiedener Geräte blieb keine Zeit, der Haussegen hing an einem schnellen Nachfolger. Schon die zwei Tage bis zur Lieferung, an denen er ohne den frischgebrühten Muntermacher auskommen musste, waren grausam. Vor Kopfschmerzen hatte er Frau und Kind am Frühstückstisch angepöbelt wie ein Säufer, der morgens um vier blau wie ein Autobahnschild in seine Wohnung stürzt. Während dieses wunderbare Gerät also die lebensspendenden Bohnen mahlt, greift Christian zum Smartphone. Er hatte die Messenger-Gruppe des Kollegiums zwar nie für eine gute Idee gehalten, aber der Gruppenzwang war zu stark. Man kann schließlich nicht einfach austreten. Was sollen denn die anderen denken? Nur kurz blitzt der Philosoph Martin Heidegger am Rande seines Bewusstseins auf, der ihn vor dem „man“ warnte. Wo das „man“ Vorgaben macht, bleibt das „ich“ im Hintergrund. Aber was wusste Heidegger schon vom modernen Leben, wo er doch selbst als Eremit eine Hütte tief im Schwarzwald bezogen und sich von der Welt zurückgezogen hatte? Christian „übersah“ ein paar Nachrichten: Ein Kollege aus der Chemie suchte jemanden für eine Vertretungsstunde und die stellvertretende Schulleitung hatte um 11:30 Uhr nachts darum gebeten, heute bis Schulschluss alle Noten einzutragen. Christian steht vor der noch leeren Kaffeetasse wie das Kaninchen vor der Schlange. Ein Beobachter könnte vermuten, dass der Vollautomat sich einen Trick beim benachbarten Toaster abgeschaut haben könnte und Christian daher erwartet, den hervorschießenden Kaffee mit dem Mund auffangen zu müssen. Den ersten Schluck gönnt er sich allein, dann weckt er Josephine. „Guten Morgen Papa“, brummt sie, den ganzen Körper unter der Decke versteckt. „Guten Morgen Sonnenschein“, grüßt Christian zurück. Kaffee, erstes Tageslicht, das Gesicht seiner Tochter. Es ging aufwärts mit dem Tag.
16:30 Uhr
Auf dem Weg nach Hause legt Christian wie jeden Tag einen Stopp bei seinem Bäcker ein. Er war heute kaum zum Essen gekommen, getrunken hatte er ohnehin zu wenig. Die desinteressierte Aushilfe am Schalter überreicht ihm einen Kaffee und ein Croissant. Letzteres hat er schon zwischen den Zähnen, als die Fahrertür noch offensteht. Er verdrückt seine Mahlzeit hastig noch während der Fahrt, seine Geschmacksnerven haben keine Zeit, sich mit der durchgeschleusten Nahrung zu beschäftigen. Das Auto holpert über den abgeflachten Bordstein auf seinen angestammten Ruheplatz. Aus dem Garten kann Christian das Quietschen der Schaukel hören. Jetzt ist erstmal Zeit für seine Tochter. Sie schaukeln eine Weile, dann lesen sie abwechselnd aus ihrem Buch. Das gemeinsame Lesen war Josephines Idee gewesen und beide hatten viel Freude daran. Diese Zeit war stets bedeutsam für Christian. Sie erinnert ihn daran, dass er nicht für seine Arbeit lebt. Doch nachdem jeder ein Kapitel vorgelesen hat - natürlich ahmten sie auch die Stimmen der Charaktere mit Inbrunst nach - geht es an die Arbeit. Nach der Energiespende seiner Tochter geht ihm die Unterrichtsvorbereitung locker von der Hand. Einiges hatte er schon vorgearbeitet. Korrekturen stehen heute ausnahmsweise nicht an. Sieht nach einem frühen Feierabend und damit nach einem Zusatzkapitel mit Josephine aus. Quality Time.
Der Flaschenöffner hat bereits seinen Dienst am Feierabendbier verrichtet und der Streamingdienst einen Vorschlag zur medialen Unterhaltung vorgelegt. Die Fersen haben soeben das Sofa berührt, da meldet sich die WhatsApp Gruppe des Kollegiums. Der für den Stundenplan verantwortliche Kollege bittet um Freiwillige für eine Klausuraufsicht am morgigen Tag. Darunter stand.
@Christian @Manuel: Wäre das nicht was für euch? Hat einer von euch Zeit?
Jetzt muss er reagieren. Schließlich wird angezeigt, dass er die Nachricht gelesen hat. Wie könnte man da nicht reagieren? Die Aufsicht war ärgerlich genug, eigentlich wollte er in der nun verplanten Stunde in der Lehrerbibliothek ein paar Seiten in Ruhe lesen. Noch mehr ärgerte ihn aber die Dreistigkeit, so spät über WhatsApp noch Vertretungen einzufordern und dann auch noch direkt Kollegen anzusprechen, die dann nicht ablehnen können. Das Bier half, die Empfehlung des Streamingdienstalgorithmus nicht.
- Mai - Braintrust
Christian, Dieter und Lisa sitzen in einem Meditationsraum. Die Schule, die den heutigen Braintrust ausrichtet, hat diesen eingerichtet, um etwas zur Work-Life Balance der KollegInnen und natürlich auch der SchülerInnen beizutragen. Heute wird der Raum zweckentfremdet. Auf den ersten Blick jedenfalls. Thema der Gesprächsrunde: Alte und neue Gewohnheiten. Lisa sollte einen Input zu diesem Thema vorbereiten:
„Die Wissenschaft ist sich nicht so recht im Klaren darüber, wie groß der tägliche Anteil unserer Handlungen ist, den wir ganz automatisch über Gewohnheiten durchführen, ohne darüber nachzudenken. Die Schätzungen beginnen bei 50% und enden erst bei einem erheblich höheren Wert. Das bedeutet, dass wenigstens jede zweite Handlung nicht den Weg über unser Bewusstsein geht.“ In den Gesichtern ihrer Kollegen findet sie nicht das erhoffe Erstaunen. Dieter wirkt höflich neugierig, Christian abgelenkt durch die Dekoration des Raumes. „Macht euch bitte klar, was das für unseren Unterricht bedeutet. Wir reagieren, ohne uns diese Reaktion ausgesucht oder reflektiert zu haben. Und dasselbe gilt für unser Privatleben, für den Umgang mit Freunden und Familie, für die Zeit, die wir mit uns selbst verbringen.“
Christian hatte sich beim Zuhören im Meditationsraum umgesehen. Die gepolsterten Hocker ohne Lehne waren ihm unangenehm, also setzt er sich auf den Boden. Die Wände hatte eine Kunstklasse mit Sinnsprüchen und passenden Kunstwerken dekoriert. Auf einem Bild ist eine Schülerin abgebildet, die im Halbdunkel auf der Bettkante sitzt, ihr Gesicht durch das Smartphonedisplay erhellt. Darüber steht geschrieben:
Die Gewohnheit ist ein Seil. Wir weben jeden Tag einen Faden, und schließlich können wir es nicht mehr zerreißen.
Thomas Mann
Lisa war Christians Blick gefolgt: „Aber unsere Gewohnheiten sind nicht gottgegeben. Auch sind sie selten so verhärtet, dass sich daran nicht etwas ändern ließe.“
„Aber sind wir nicht das Produkt unserer Umwelt?“ wendet Christian ein. Lisa nahm die Unruhe ihres Kollegen schon den ganzen Tag war. Er konnte nicht ruhig sitzen, redete wenig, und wenn er es tat, war er nicht konstruktiv. „Ich meine“, fährt er schließlich fort, „wir haben bestimmte biologische Dispositionen, sind kulturell geprägt und gehen unseren Gewohnheiten teilweise bereits seit Jahrzehnten nach.“ Dieter reibt sich mit den Handflächen über die Oberschenkel, kommt dann Lisa mit einer Antwort zuvor: „Dispositionen und Prägungen mögen uns beeinflussen, den einen stärker den anderen weniger, aber mir fallen wenige Beispiele ein, die wirklich festgelegt sind. Vielleicht einige körperliche Attribute wie unsere Größe, okay, aber an allem anderen können wir was tun.“ „Ich weiß nicht“, sagt Christian, den Blick auf das Zitat von Mann gerichtet. „Das ist eine ziemlich große Verantwortung“. Lisa gibt ihm und Dieter Zeit für weitere Kommentare und führt dann aus: „Selbstverantwortung, die Verantwortung für mein Leben, ist eine der Säulen des Braintrust. Es ist eine große Verantwortung, in der aber auch Freiheit liegt. Wer die Gründe seiner selbst außerhalb von sich sucht, wird von diesen Gründen bestimmt. Der Herr seiner selbst trägt eine Last, trägt sie aber immerhin selbst.
Jedenfalls möchte ich heute mit euch an unseren Gewohnheiten arbeiten, und zwar mittels der „Tiny-Habits“ Methode von Dr. BJ Fogg. Dafür bringen wir aber zunächst die Gewohnheiten ans Tageslicht, die ihr bereits pflegt. Oft sind wir uns derer gar nicht bewusst. Christian, welchen morgendlichen Ritualen gehst du nach?“
Christian streckt die Beine aus, so dass nur die Fersen den Boden berühren und legt den Kopf bei durchgestrecktem Rücken leicht in den Nacken. Er bläßt die Backen auf und denkt nach. „Ich trinke morgens Kaffee.“
„Und?“
„Danach wecke ich meine Tochter. Zwei sehr schöne Gewohnheiten, ohne die ich wohl gar nicht mehr aus dem Bett käme. Mehr fällt mir nicht ein.“
Dieter ergänzt: „Ich erwische mich häufig dabei, morgens, noch auf der Bettkante sitzend, Ärgernisse des Tages zu antizipieren. Daher versuche ich seit ein paar Tagen, stets mit positiven Gedanken aufzuwachen. Dazu sage ich mir: „Heute habe ich die Chance, das Leben meiner Schüler zu verändern und meinen Kollegen ein angenehmer Mitarbeiter zu sein.“ Christian zieht die Beine heran, rundet den Rücken und blickt auf seine Knie: „Stimmt schon, den ersten positiven Gedanken habe ich beim Wecken meiner Tochter. Es gibt also vorher eine feste Zeit, die ich mit negativen Gedanken fülle. Ich ärgere mich über den Wecker, weil er zu hell ist und einen unangenehmen Ton von sich gibt, über die Tagesschau und über Nachrichten aus der Kollegiums-Chatgruppe. Andererseits will ich mir auch nichts schönreden. Manche Dinge sind eben unangenehm.“
„Da haben wir ja einiges zu besprechen“, kommentiert Lisa. „Ärger über den Wecker, über die Tagesschau, über dienstliche Nachrichten am Morgen. Was können wir denn da tun?“ Christian fühlt sich unwohl und in die Ecke gedrängt. Er schwingt die verbalen Fäuste zur Selbstverteidigung: „Der Wecker war ein Geschenk. Und wir wollen doch wohl informierte Wähler sein.“ Kurze Pause. Dann der rettende Einfall: „Und in der Gruppe sind manchmal wichtige Nachrichten, die einer Reaktion bedürfen.“ Er merkt erst nach dem Punkt, wie er soeben zum Verteidiger der lästigen Chatgruppe wurde. Dieter spürt die defensive Haltung seines Gesprächspartners, reagiert aber klar und deutlich, so wie es beim Braintrust üblich ist: „Wer auch immer dir den Wecker geschenkt hat wollte sicher nicht, dass er dich ärgert. Schmeiß das Ding weg und kauf dir einen anderen. Nachrichten kannst du auch in der Mittagspause schauen, wenn du etwas weniger anfällig für schlechte Stimmung bist als am Morgen.“ Lisa nickt zustimmend: „Einige Probleme in unserem Tagesplan lassen sich nicht einfach lösen. Diese beiden hingegen sind schnell abgestellt. Du musst nicht auf die Tagesschau verzichten, kannst aber versuchen, sie auf einen anderen Teil des Tages zu verschieben. Die Sache mit der Chatgruppe ist ein Unding.“ „Aber auch die“, sagt Christian, „könnte ich vielleicht erst nach der Schule lesen.“ „Besser, ja,“ meint Lisa, „aber die ganze Gruppe ist Unfug. Sie vermischt Dienst und Privates sehr stark, was ohnehin ein großes Problem für LehrerInnen darstellt. Ich würde da austreten.“ „Aber dann verpasse ich vielleicht was Wichtiges! Das kann ich nicht machen! Die Schulleitung fände das gar nicht gut.“ Lisa wägt kurz ab, sagt dann: „Kann kurzfristig für etwas Stress sorgen, das legt sich aber wieder. Vermutlich werden da noch mehr mitmachen, wenn mal einer vorgeht. Vielleicht sollte man sogar die LehrerInnenvertretung der Schule einschalten. Aber ich gebe gerne zu, dass von den drei genannten Themen dieses das schwierigste ist. Lass uns bei den einfachen Dingen anfangen, da lässt sich eine Menge gewinnen. Wie geht es nach der Schule bei dir weiter?“
„Das ist nicht jeden Tag gleich. Häufig esse ich auf dem Weg nach Hause, verbringe Zeit mit meiner Tochter – wir lesen uns gegenseitig vor – und dann mache ich es mir vor dem Fernseher gemütlich.“ Dieter fragt nach: „Du isst auf dem Weg nach Hause? Klingt ungemütlich.“ „Ja, schon,“ räumt er ein, „ich stoppe beim Bäcker und esse im Auto.“
„Wie schmeckt es da?“
„Mäßig. Und zu teuer ist es auch.“ Lisa ergänzt: „Und genießen tust du es auch nicht, wenn du es dann im Auto runterschlingst. Die Gewohnheit, mit deiner Tochter gemeinsam zu lesen, ist wunderbar. Wir brauchen alle viel mehr solch positiver Routinen im Tag. Der Tag schließt dann mit Fernseher und Bier?“ „Jap, das muss nach einem langen Arbeitstag wohl erlaubt sein“, reagiert Christian, der sich zunehmend angegriffen fühlt. „Klar ist es erlaubt“, sagt Lisa, „es ist nur eine schlechte Angewohnheit. Glaubst du, Dirk Nowitzki hat zu seiner aktiven Zeit als Basketballer abends regelmäßig Alkohol getrunken? Sicher nicht. Zumal es leckere Alternativen gibt: Zuckerfreien Tee, Saftschorlen…“. Vielleicht fällt dir ein passabler Ersatz ein. Wenn das Feierabendbier für dich nicht verzichtbar ist, dann kannst du statt des Fernsehens eine Runde spazieren gehen.
„Du hast sicher auch schlechte Angewohnheiten“, schießt Christian zurück. Dieter fühlt sich unwohl. Christian ist schon zu lange dabei, um freundlich gemeinte, wenn auch streng formulierte, Denkanstöße derart ungehalten aufzunehmen. So wird im Braintrust nicht gearbeitet. Hier ist man offen, wenn auch respektvoll. „Du möchtest nicht über deine Gewohnheiten reden, das ist in Ordnung. Dann reden wir über meine“, antwortet Lisa souverän. „Ich wollte dich nicht so anfahren,“ versucht Christian die Situation zu retten. Lisa geht darüber hinweg und erzählt: „Ich nehme mir auch Zeit für meine Familie. So wie du für deine Tochter. An dieser Zeit wird nicht gespart. Ich tendiere aber dazu, mir selbst zu wenig Zeit einzuräumen. Daher habe ich mir eine Tiny-Habit eingerichtet.“ Dieter, dessen Blick für einen Moment an den Plakaten des Raumes hängen geblieben war, wendet sich ihr zu: „Tiny-Habit“? Eine kleine Gewohnheit? Ein Gewohnheitchen?“ „Ja, ein Gewohnheitchen“, bestätigt Lisa. Das Konzept geht zurück auf Dr. BJ Fogg und sein Buch Tiny Habits. Er schlägt vor, wünschenswerte Routinen an alltägliche Handlungen zu knüpfen.“ „Immer wenn ich Bier trinke, gehe ich danach eine Runde spazieren?“ schlägt Christian vor. Dieter wendet ein: „Damit setzt du Alkoholkonsum nur in die Nähe zu gesundem Verhalten. Überzeugt mich nicht. Lisa, wie wäre es, wenn du auf der Heimfahrt von der Arbeit irgendwo einen schönen Zwischenstopp einlegst? Oder die Bettzeit deiner Kinder damit verbindest, danach eine halbe Stunde Zeit für dich zu reservieren?“ „Gut“, sagt Lisa, „aber etwas vage. Vielleicht: Immer, wenn ich meine Kinder abends ins Bett gebracht habe, ziehe ich mich eine halbe Stunde zum Meditieren zurück.“ Christian nimmt einen neuen Anlauf: „Immer, wenn ich mich auf das Sofa lege, mache ich zuvor zwei Liegestütze.“ „Klasse Idee“, kommentiert Dieter. Lisa ergänzt: „Und um es sich einfach zu machen, bereitet man den Raum für seine Tiny Habit vor. Vielleicht kannst du eine Sportmatte direkt neben das Sofa stellen. Dort wirst du sie sehen und dich an deinen Vorsatz erinnern.“
Dieter hatte den Raum bereits verlassen. Natürlich nicht, ohne sich auch noch eine Tiny Habit zuzulegen. Er würde nun, immer bevor er zum Handy greift, einen Schluck trinken. Das tat er nämlich nicht ausreichend. Christian will gerade gehen, da spricht Lisa ihn an: „Willst du weiter hier mit uns trainieren, Christian?“ Der fährt herum, will antworten, lässt es dann aber bleiben. „Es ist nicht immer leicht mit uns“, fährt Lisa fort, „und wenn du genug davon hast, wird das jeder respektieren. Aber schnippische Antworten und halbherziges Engagement passt nicht in den Wertereferenzrahmen dieser Veranstaltung. Wir sind offen zueinander und manchmal auch hart. Wir fordern voneinander einen hohen Anteil von Eigenleistung und die Bereitschaft, an sich selbst zu arbeiten. Damit kommt nicht jeder klar. Aber wenn du bleiben möchtest, muss du dich damit arrangieren.“ „Ich denke darüber nach“ antwortet Christian.
Disziplin
Christian kann nur beeindruckt zusehen. Die Leistung, die seine Schüler auf dem Handballfeld abrufen, ist bemerkenswert. Die gegnerische Mannschaft hat soeben den Ball nahe am anvisierten Tor verloren. Benjamin, seines Zeichens Torwart der Schulmannschaft, nimmt den Ball auf und spielt ihn über 20 Meter präzise zu seinem Mitspieler. Der nimmt ihn im vollen Lauf auf Brusthöhe an, lässt ihn einmal kontrolliert tippend am Boden aufkommen, nimmt ihn sicher wieder auf und durchquert das Feld dabei diagonal. Ein Teamkollege kreuzt seinen Laufweg und sie übergeben den Ball bei hoher Geschwindigkeit und noch höherer Konzentration. Keine Chance für den Gegner, hier an den Ball zu kommen, so präzise ist das Timing des Spielzugs. Der Spieler in Ballbesitz stürmt auf eine Lücke zwischen dem Halb- und dem Außenverteidiger zu. Damit zwingt er beide zur Bewegung und reißt so eine Lücke für seinen eigenen Linksaußen. Dieser erkennt die Situation und macht sich bereit zum Anlauf, als bereits der Ball durch einen technisch anspruchsvollen Pass hinter dem eigenen Rücken des Passgebers seinen Weg zu ihm findet. Scheinbar mühelos nimmt er den flachen Ball mit einer Hand auf, macht drei Schritte, hebt den Wurfarm und springt an seinem gebundenen Verteidiger vorbei Richtung Tor. Die ganze Aktion dauerte von Benjamins Pass an keine zehn Sekunden. Christian ist kein Handballer, kann sich aber gut vorstellen, dass ein Wurf von der Außenposition keine triviale Angelegenheit ist. Wie sollte der Spieler den Ball aus diesem spitzen Winkel am Torwart vorbeibekommen? Er hat diese Frage noch nicht gedanklich ausformuliert, da schlägt der Ball mit einem vollen „Klong“ am gegenüberliegenden Innenpfosten ein und von dort aus ins Tor. Applaus aus dem Publikum, dann ein Pfiff. Der Schiedsrichter, ebenfalls ein Schüler und nicht sehr erfahren in der ihm anvertrauten Position, hat das Tor aberkannt, da der Schütze im für ihn nicht zugänglichen Kreis gestanden haben soll. Christian hatte von der Tribüne aus gesehen, dass dies keinesfalls der Fall war. Eine knappe Entscheidung und aus dem Winkel des Schiedsrichters schwer zu sehen, zugegeben, aber dennoch falsch. Er kennt seine Schüler gut genug, um zu wissen: Es würde nun geschimpft werden, wie ungerecht das alles doch sei. Der Schiedsrichter tut ihm ein wenig leid. Er hat das Bild genau vor Augen: Der Schütze würde ein wenig jammern und sich danach frustriert auf die Bank setzen. Der Trainer kann da tun was er möchte. Die anderen arbeiten weiter am Leistungsminimum, verlieren aber jede ernste Ambition. So kannte er es jedenfalls aus dem Unterricht. Doch er irrt. Keiner verliert auch nur ein Wort darüber, am wenigsten der um seinen Erfolg betrogene Schütze, alle eilen sofort zurück in die eigene Hälfte und sortieren ihre Verteidigung, um den Gegnern keine leichte Torchance zu ermöglichen. Jedes Gemotze, jede Geste der Empörung, die Christian nur allzu gut aus dem Fußball kennt, wäre eine verschwendete Sekunde gewesen. Und die straft der Handballsport sofort. Die gegnerische Mannschaft hat den Ball noch nicht in die erste Angriffswelle getragen, da steht die Verteidigung bereits organisiert und lautstark motiviert bereit. Alle haben die Arme gehoben und bilden eine respektable Mauer. Jeder Angreifer, der sich auf neun Meter dem Tor nähert, wird ohne zu zögern hart aber regelkonform angegangen. Blaue Flecken am eigenen Leib nehmen Christians Schüler bedenkenlos in Kauf. Was für ein Einsatz. Christian versteht zu wenig von dem Sport, um die Verteidigungsformation zu analysieren. Ganz offensichtlich steckt aber mehr dahinter als nur der körperbetonte Angriff gegen den Ballhalter. Nach einem für ihn undurchsichtigen System wechseln die Verteidiger ihre Gegenspieler, lassen für einige Momente sogar einzelne Angreifer ungedeckt, um sich zu zweit einem der Angreifer zu widmen. Einige bewegen sich weit vom Tor weg und üben dort Druck auf die Angreifer aus, andere stehen defensiv und verteidigen Passwege oder Laufräume. Auch ohne diese Strategie im Detail zu verstehen wird Christian schnell klar: Das hier ist anspruchsvoller als Vokabeln lernen. Warum aber funktioniert das hier so viel besser? Warum hat die Mannschaft während des Spiels noch keinen Ball fallen lassen und kaum einen technischen Fehler begangen? Warum steht jeder an seinem Platz, obwohl alle schon sichtlich müde sind. Warum klagen sie nicht über Fehler des Schiedsrichters? Er ist fest entschlossen, diese Antwort zu finden. Der Angriff der gegnerischen Mannschaft verläuft derweilen so erfolglos wie erwartet. Ein bedrängter Spieler versucht einen weiten Pass, auf den die Verteidigung nur gelauert hat und der nun von einem aufmerksamen Abwehrspieler abgefangen wird. Der findet nun das ganze Feld bis zum gegnerischen Tor frei vor sich. Mit Abstand zur verbotenen Kreiszone springt er hoch ab und auf den Torwart zu. Der kann nur chancenlos zusehen, wie der Ball präzise neben seinem Standbein aufschlägt und seinen Weg im Tornetz beendet.
„Es ist die Disziplin“, denkt sich Christian. Die Spieler der siegreichen Mannschaft, denn den Triumph würden ihnen hier zweifellos auch kein schlechter Schiedsrichter nehmen können, sind routiniert und diszipliniert. Sie vertrauen den Entscheidungen ihres Trainers ebenso wie den Fähigkeiten ihrer Mitspieler, ohne diese zu hinterfragen. Auch in sich selbst setzen sie ihr Vertrauen. Niemand zögert bei einer sich bietenden, günstigen Gelegenheit, ein Tor zu werfen. Beim Abfragen von Vokabeln meldet sich selten jemand, einige sicher aus Angst vor Fehlern. Jeder erledigt die vom Trainer zugewiesene Aufgabe klaglos. Wie oft die vorgeführten Laufwege zuvor trainiert werden mussten, kann Christian nur vermuten. Selbiges gilt für die Zeit, die nötig war, die komplexen Spielzüge zu verstehen. Seine Schüler haben dabei außergewöhnliches Durchhaltevermögen sowie die Fähigkeit bewiesen, sich auch anspruchsvolle Sachverhalte einzuprägen und situationsabhängig reagieren zu können. Derartige Leistungen erbringt man nicht bei einer Stunde Training die Woche. Dahinter steckt eine beeindruckende Portion Disziplin, die leider heute in der Pädagogik verkannt wird. Bei Disziplin denkt man an sinnlose und körperlich oder seelisch brutale Strapazen aus dem Militär und nicht an sportliche Erfolge. Christian sieht disziplinierte Kinder. Was er nicht sieht ist Frust, Überforderung, Unzufriedenheit oder Zwang. Hingegen sind sie energetisch, leidenschaftlich, fokussiert und haben offensichtlich Spaß an dem, was sie tun. Disziplin ist ein Geschenk, welches man seinen Schülern angedeihen lassen oder verwehren kann.
Am Ende des Spiels sucht Christian den Trainer der Mannschaft und findet ihn. Er ist offensichtlich in Eile und verlässt die Halle. Christian stoppt ihn dennoch: „Entschuldigen Sie, dass ich Sie aufhalte, aber ich muss dringend etwas wissen.“ Der Trainer bleibt stehen und schaut ihn an. Er ist großgewachsen und schlank, aber mit breiten Schultern. Vermutlich selbst aktiver Handballer. Freundlich hält er inne: „Sind sie der Vater eines der Kinder? Ich dachte, ich würde alle Eltern kennen. Wenigstens vom Sehen.“
„Nein“, sagt Christian, „ich bin ihr Lehrer. Und ich wüsste gerne, wie es Ihnen gelungen ist, die Truppe derart diszipliniert auftreten zu lassen. In meinem Unterricht vermisse ich so manches, was ich heute auf dem Spielfeld sehen konnte. Durchhaltevermögen, Konzentration, Ehrgeiz.“
„Ich bin leider sehr in Eile.“ Sein Blick fällt durch die Glasscheibe zu seinem Fahrzeug. „Aber ich sage Ihnen vier Dinge: Ruhe, Richtung, Regeln, Respekt. Der Rest findet sich.“ Er reicht Christian die Hand und verabschiedet sich.
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Mein neuer Blog: Bekenntnisse aus dem Klassenzimmer
Wer kreative Ideen für den Unterricht sowie aktuelle Informationen zum Lehrerdasein sucht, ist hier genau richtig.
Unangefochtene Kernfrage des Bildungssystems ist die Frage, wodurch sich guter Unterricht auszeichnet. Jeder Pädagoge will guten Unterricht ….
Das Management einer Lerngruppe bestimmt ganz entscheidend über den Lernerfolg von SchülerInnen. Unter anderem definiert sich an diesem Kriterium die im Klassenraum….
Menschen in sozialen Berufsgruppen sind besonders anfällig für psychische Erkrankungen. Uns Lehrern geht es dabei zwar besser als Pflegekräften ….
Achtsamkeit ist en vogue. Und das zurecht. Die noch heute bei vielen Menschen als Esoterik belächelte Achtsamkeitspraxis, zu der konzentrationsfördernde Übungen, …
Über Mich
Bis 2019:
Studium (Latinistik, Graezistik, Philosophie und Bildungswissenschaften) in Trier und Thessaloniki (Master of Education).
Lehrkraft im Rahmen der Maßnahme „Berufsvorbereitung“ beim Internationalen Bund
Bis 2020:
Referendariat am St. - Michael – Gymnasium Monschau (2. Staatsexamen)
Bis heute:
Lehrer am Hermann-Josef-Kolleg Steinfeld.
Fortbildungen:
Projektlehrer „Jugend Debattiert“
Zertifizierter (und praktizierender) Apple-Teacher
„So geht Humanismus!“ Fortbildung der Humanistischen Vereinigung.
Projektkoordinator und Award Leader für den „The Duke of Edinburgh's International Award“
Stefan Schließmeyer
Lehrer am Hermann-Josef-Kolleg Steinfeld
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